Mario Räber, Gemeindeammann von Besenbüren
«Man muss laufend den eigenen Horizont erweitern.»Die einen wirken im Grossen und versuchen, die Welt zu verändern. Die anderen setzen ihre Bereitschaft in einer Gemeinde mit 600 Einwohnern um. Das Grosse bewegt sich nicht ohne das Kleine - das weiss auch Mario Räber, der bereit ist, neue Weg zu beschreiten.
Als Gemeindeammann von Besenbüren sind Sie ein «Topmanager im kleinen Rahmen». Da müssen Sie immer mal wieder Pioniergeist entwickeln. Was sind für Sie die Qualitäten eines Pioniers?

Ich frage mich, ob ich tatsächlich ein so grosser Pionier bin. Ich probiere gerne Neues aus und versuche auch, neue oder andere Wege zu gehen. Ich bin auch nicht alleine unterwegs, viele Lösungen entstehen durch konstruktive Gespräche im Gemeinderat oder mit der Verwaltung. Letztlich geht es auch in einer kleinen Gemeinde darum, die anfallenden Aufgaben möglichst effizient und mit den vorhandenen Ressourcen zu bearbeiten.

Aktuell steht der Ausbau des Schulraums und die Überarbeitung des Abfallreglements an. Hier stellt sich die Frage, wie möglichst viele Meinungen aus der Bevölkerung abgeholt werden können, damit ein grosser Nutzen für das Dorf entsteht. Die Herausforderung besteht darin, dass viele Leute nicht öffentlich für ihre Meinung eintreten. Der Ansatz des Gemeinderates war es, dass wir die Meinungen dieser Menschen mit einem niederschwelligen Angebot abholen wollten. Das ist uns mit BrainE4 gelungen.

Wir sind in schwierigen Zeiten. Was heisst das für Sie?

Wir sind definitiv in einem Umbruch. In meinem bisherigen Leben ging es noch nie so turbulent zu und her. Das heisst für mich, es gibt neben den ohnehin anfallenden Arbeiten auch zusätzliche Herausforderungen.

Im Moment ist es zumindest auf Gemeindeebene eher wieder etwas ruhiger. Ich denke aber auch, das gab es schon immer, vielleicht einfach nicht ganz so ausgeprägt, wie während Corona.

Empfinden Sie das eher als Chance oder Gefahr – für sich und die Gemeinde?

Für mich wie die Gemeinde eher als Chance. Ich muss es nehmen, wie es kommt. Manchmal frage ich mich schon, ob dies jetzt auch noch sein muss. Ändern kann ich es aber trotzdem nicht. Ich kann nur versuchen, das Beste aus der Situation zu machen. Es ist aber auch eine Chance, daran als Persönlichkeit und als Team zu wachsen.

Während Corona haben wir beispielsweise versucht, möglichst viele Anlässe trotzdem durchzuführen, dies selbstverständlich unter Einhaltung der Vorgaben des Bundes. Das wurde in der Bevölkerung mehrheitlich positiv aufgenommen.

Man kann man sich auf gewisse Szenarien aber auch vorbereiten, ohne gleich den Teufel an die Wand zu malen. So haben wir die Energie für die Elektra schon immer in Tranchen beschafft. Was uns davor bewahrt, den Strom völlig überteuert einkaufen und diese Preise an die Einwohner der Gemeinde weitergeben zu müssen. Heute ist dieses Vorgehen gesetzlich vorgeschrieben….

Als Gemeindeammann müssen Sie es oft allen recht machen. Wo bleibt da noch Spielraum für Pioniergeist?

«Allen Leuten recht getan, ist eine Kunst, die niemand kann.» Damit muss man umgehen können. Den meisten Leuten ist das aber auch bewusst und sie akzeptieren es, dass man auch als Gemeindeammann nicht unbedingt ihre Meinung teilen muss. Wichtig ist dabei aber, dass man auch die entsprechenden Argumente hat. Das ist das eine.

«Pragmatismus ist für mich kein Schimpfwort.»

Das andere ist: Man muss laufend den eigenen Horizont erweitern, über den Tellerrand blicken. Wie werden beispielsweise Aufgaben von anderen Gemeinden gelöst. Das funktioniert nur, wenn man sich mit anderen Gemeinderäten oder auch Leuten, die in diesen Gemeinden wohnen, austauscht. Ich bin beruflich als Ingenieur auch innovativ unterwegs und bin es gewohnt, nach einfachen, funktionalen Lösungen zu suchen.

Die Entscheidungsfindung in einer Gemeinde ist gesetzlich genau geregelt. Der Weg von der Idee und dem Bedarf bis zur Vorlage ist jedoch frei. Mit den Möglichkeiten von BrainE4 können wir versuchen, die Leute besser zu erreichen und ein breit abgestütztes Bild zu bekommen, was die Menschen denken und sie bewegt.

An Infoveranstaltungen hört man nur die, die sich trauen, etwas zu sagen. Die anderen bleiben ruhig oder sprechen hintenherum. Das ist manchmal frustrierend. Aber da wir die Menschen nicht verändern können (und wollen), müssen wir dafür sorgen, dass wir auf anderen Wegen erfahren, was die Leute im Dorf beschäftigt.

Also war für Sie der Einsatz von BrainE4 ein wichtiger Innovations-Schritt.Das ist so. Gleichzeitig müssen wir uns weiterhin an die Abläufe halten. Die demokratischen Prozesse bleiben bestehen. Die Gemeindeversammlung hat das letzte Wort. Das muss auch den Teilnehmern am Online-Dialog bewusst sein.
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Ich erhoffe mir, dass wir aus den Erkenntnissen, die wir aus dem Online-Dialog gewonnen haben, besser verstehen können, was die Leute wirklich bewegt. Der Politapero oder die Gemeindeversammlung bringen da bedauerlicherweise eine bedeutend weniger gute Transparenz.Wenn Sie etwas wünschen könnten für Ihre Gemeinde, was wäre das?Dass deutlich mehr Leute an den Politapéro und die Gemeindeversammlung kommen und auch für ihre Meinung einstehen.Haben Sie Vorbilder?Meine Vorbilder sind Menschen, die pragmatisch unterwegs sind. Pragmatismus mag heute ein Schimpfwort sein – für mich nicht. Ich orientiere mich auch gerne an Menschen, die nach allen Seiten offen sind. Eine meiner grössten Sorgen ist allerdings, dass wir uns zu Tode regulieren.
«Heute will niemand mehr Verantwortung übernehmen.»
Wie meinen Sie das?

Es gibt zu viele Regulatorien, die Innovation schon ausbremsen, bevor man etwas überhaupt nur ausprobieren konnte. Unglaublich, wie viel Papierkram man erledigen muss, um zu beweisen, dass uns etwas wirklich weiterbringt.

Anders gesagt: Heute will niemand mehr Verantwortung übernehmen. Alle wollen sich verstecken. In diesem Versteckspiel gibt es immer mehr Dokumente, die ausgefüllt werden müssen – damit sich jeder rundherum absichern kann. So wird verhindert, dass man sagt: «Wir legen mal los und akzeptieren das Risiko des Scheiterns.» Das nervt mich.

Wie arbeiten Sie dem entgegen?

Das ist nicht einfach. Aber auf der Ebene, auf die ich Einfluss habe, haben wir es gemacht. Wir haben die Prozesse wesentlich vereinfacht, Kompetenzen verschoben und Verantwortlichkeiten definiert. Dabei mussten selbstverständlich die rechtlichen Vorgaben eingehalten werden.

Das hat zur Folge, dass heute wesentlich weniger Geschäfte durch den Gemeinderat gehen. Das entlastet zum einen den Gemeinderat und zum anderen die Verwaltung, die die Geschäfte vor- und nachbereiten muss.

Der Gemeinderat hat heute Zeit für seine wesentlichen Aufgaben und ist nicht mehr im Tagesgeschäft eingebunden. Dafür bekam die Verwaltung deutlich mehr Kompetenzen. Die Widerstände gegen den Wandel waren am Anfang gross und Ressourcen kaum vorhanden. Aber mit jedem noch so kleinen Schritt gab es Erfolge zu verzeichnen. Heute möchte niemand mehr zum alten, historisch gewachsenen System zurück.

Wie gehen Sie mit internem und externem Widerstand um?In meiner Jugendzeit ging ich ins Judo. Was ich daraus mitgenommen habe, ist: Der Widerstand, der einem entgegengebracht wird, kann man für sich nutzen, um vorwärtszukommen. Wenn man diese Energie in die Lösungsfindung integrieren kann, gibt es in der Regel auch die besseren Lösungen.Ein schönes Schlusswort. Ich bedanke mich für das Gespräch.
Interview: thk
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